Aus dem Schulhaus Silvaplana erklingen in dieser Woche wuchtige Gesangsstimmen, welche noch lange im Dorf nachhallen werden. Diese gehören jungen Talenten, welche in der Musical-Branche Tritt fassen möchten und am Musical Campus 3303 teilnehmen. Beim Musical ist die Konkurrenz, verglichen mit den anderen Theater-Sparten, besonders hoch. «Auf zwanzig Rollen bewerben sich 800 Darstellerinnen und Darsteller», sagt Werner Signer, Direktor des Theaters St. Gallen, der den Workshop ins Leben gerufen hat. Ein Engagement beschränke sich jeweils auf eine Produktion. Zwei Drittel der Bewerber seien Frauen, dadurch sei das Niveau der Darstellerinnen besonders hoch, was sich auch im Musical Campus wiederspiegle.
Werner Signer, der selbst eine Wohnung in Silvaplana hat, wollte etwas für die Gemeinde tun. Im Gespräch mit dem Gemeindepräsidenten Daniel Bosshard kristallisierte sich schnell heraus, dass das Genre Musical gut zur jungen, sportlichen Destination passt, Klassik gebe es schliesslich bereits genug im Oberengadin, so Signer. Der Theaterdirektor wollte ein Angebot für die jungen Berufseinsteigerinnen und -einsteiger schaffen, deren Schwierigkeiten ihm bestens vertraut sind. Das Theater St. Gallen produziert als einziges Theaterhaus in der Schweiz Musicals. Es realisierte Produktionen wie «Wüstenblume», «Matterhorn» oder «Artus – Excalibur» und garantiert somit als Partner des Musical Campus‘ für fachliches Know-how und ein hervorragendes Netzwerk.
Altlasten hinter sich lassen
In Silvaplana werden fünfzehn junge Künstlerinnen und Künstler von Dozenten aus der Praxis angeleitet. Mit im Leitungsteam ist Regisseur Gil Mehmert, dessen Inszenierungen alle Genres des Musiktheaters und Schauspiels umfassen. Ausserdem ist er Professor im Studiengang Musical an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Mehmert betont die gute Mischung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Alle seien sehr aufnahmebereit. «Der Ort hilft, Altlasten hinter sich zu lassen und sich von allem zu befreien», so der Regisseur.
Es ist 11.00 Uhr. Nach der Yogastunde finden sich die Teilnehmenden in der Aula des Schulhauses zum Einsingen mit Edward Hoepelman ein. Der Holländer ist ebenfalls Teil des dreiköpfigen Leitungsteams. Nach einer halben Stunde klassischer Stimmübungen erreichen die Sängerinnen und Sänger eine Stimmhöhe und ein Volumen, welches das Trommelfell beinahe zum Platzen bringt. Eine Gruppe arbeitet nun mit Gil Mehmert szenisch, während die andere Gruppe Gesangsunterricht geniesst.
Geschichte im Vordergrund
Friederike Bauer hat erst gerade am Freitag ihren Bachelor in Tilburg (NLD) am Fontys Conservatorium bei Edward Hoepelman abgeschlossen. Ihm habe sie viel zu verdanken, erzählt die 26-Jähige. Sie nimmt bereits zum zweiten Mal am Workshop teil. «Am Musical gefällt mir, dass die Geschichte im Vordergrund steht», sagt sie. Dabei transportiere die Musik die Geschichte. Anders als in der Oper kommt dem Schauspiel im Musical, das eine Form des populären Musiktheaters ist, eine wichtige Rolle zu.
Mehmert schärft in seinem Unterricht den Blick für die kleinen Gesten; damit eine Handlung auf der Bühne gross wirkt, muss sie entschieden ausgeführt werden. «Kein Rumgehampel», ermahnt er einen Darsteller, der sich schüchtern seiner Duettpartnerin nähert und ihr im späteren Verlauf ein Taschentuch anbieten soll. Die Geste, die später auf der Bühne organisch rüberkommt, will geprobt sein. Zückt der Darsteller das Taschentuch bevor er zum Gesang anhebt oder nach der Gesangseinlage? Wie reagiert die Angebetete auf den Verführungsversuch des schüchternen Verehrers, ohne zu dominant zu wirken? Ausserdem weist Mehmert das Paar darauf hin, «ihr Lachen nicht inflationär ins Publikum zu schleudern.»
Während der Proben hat Mehmert das Openair-Konzert «not dal musical», das am Freitagabend auf dem Plazza dal Güglia stattfindet, vor Augen. Geplant ist eine Musicalgala mit Solos, Bekanntem und Neuem sowie einer sechsköpfigen Liveband. Mehmerts Proben begleitet daher auch immer der ökonomische Gedanke: Wie viel Zeit kann er für einzelne Solos aufwenden?
Stimme ein Muskel
Nachdem das Frauenduett aus Bonnie und Clyde geprobt wurde, kommt endlich Friederike Bauers Part. Die zierliche junge Frau mit den funkelnden schwarzen Augen schmettert eine Arie aus dem Phantom der Oper hin, sodass die Fensterscheiben nur so zittern. Dabei dirigiert ihr Gesangspartner als Phantom ihren Einsatz, gestisch unterstützt vom Chor. Drei Mal in Folge singt Bauer die schwierige Passage. Mehmert lobt ihren Einsatz. In der Oper würden viele Sänger schwierige Passagen nur markieren, aus Angst, die Stimme könne sich abnutzen. «Ich aber denke, dass die Stimme ein Muskel ist, der grösser wird, wenn man ihn trainiert.» Bauer selbst betont im Gespräch den Wert der harten Arbeit. Sie zahle sich früher oder später aus. Mindestens zwei Stunden täglich übt sie, nur am Sonntag mache sie frei.
In Silvaplana inspiriert sie die Konkurrenz, sie will neue Dinge dazulernen. Tipps der Profis seien für künftige Auditions wichtig. Ihr weiterer Weg führt die gebürtige Leipzigerin nach Hamburg. Dort wird sie ein Engagement in einem Projekt von Dirk Schattner wahrnehmen. Ihr Ziel sind die grossen Stage-Produktionen in Deutschland, Wien und – natürlich St. Gallen.
Der Mensch als Ganzes
Nach einer kurzen Mittagspause steht für Mehmerts Gruppe der zweistündige Gesangsunterricht an. Bauer hat neben der Arie aus dem Phantom der Oper noch weitere Stücke aus «Sister Act» und «Elisabeth» im Gepäck, an denen sie gerne arbeiten würde.
Am Abend erwartet die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem Abendessen jeweils ein Abendprogramm mit Fachvorträgen rund um Bühnenangst, Stimmpraxis und Autogenes Training. «Wir wollen den Menschen als Ganzes betrachten,» sagt Signer.
Im hart umkämpften Business darf die Muse und Erholung nicht zu kurz kommen, schliesslich schöpfen die jungen Künstlerinnen und Künstler aus ihrem individuellen Pool an Erfahrungen und Emotionen, aus ihrer Einzigartigkeit, mit der sie ihrer Rolle ihre persönliche Färbung geben.
Not dal musical: morgen Freitag, 15. Juli, 20.30 Uhr, Plazza dal Güglia, Eintritt frei
www.musicalcampus3303.ch
Text und Foto: Bettina Gugger
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