Der erste Satz entscheidet, ob Lea Catrina eine Geschichte schreibt. Der erste Satz in ihrem neuen Roma «Waldbad» lautet: «Ich weiss schon lange, dass Glück nicht so gleichmässig verteilt wird wie Luft.» Dieser eine Satz enthält die Kernbotschaft des neuen Romans. Sie handelt vom Gelegenheitsjobber Luan, der sich im beliebten Kurort Waldbad gerade so durchschlägt, während reiche Touristen zunehmend die Einheimischen verdrängen. Luan lebt in einem Dorf, das sich ganz schnell verändert. Dann verliert auch er seine Kellerwohnung, doch wegzugehen, ist für ihn keine Option.
Lea Catrina ist in Flims aufgewachsen. Sie hat mehrere Jahre im Ausland gelebt, zuletzt in San Francisco. Dort hat sie sich viel mit dem Thema Heimat auseinandergesetzt. Im vergangenen Jahr ist sie mit Mann und Kind nach Flims zurückgekehrt, wo sie selbst mit der Problematik von unerschwinglichem Wohnraum für Familien konfrontiert wurde. Die Rückkehr in ein so stark verändertes Heimatdorf hat sie zum neuen Buch inspiriert. «Waldbad» ist ihr dritter Roman. Am Karsamstag hat Lea Catrina das Buch in der Libraria Poesia Clozza in Scuol vorgestellt. Moderiert wurde die Lesung von Flurina Badel.
Protagonist mit Witz und Charme
Die Thematik der Geschichte ist in Graubünden bekannt – und an manchen Orten akut. Bergdörfer werden zu Touristendörfern, zur Zweitheimat für gut Betuchte. Lea Catrina hat es dennoch geschafft, eine gewisse Leichtigkeit in dieses eher düstere Setting einzubringen. Das hängt vor allem mit ihrer Sprache und mit dem Protagonisten zusammen, einem jungen Lebenskünstler.
Luan ist im Sommer Bademeister am See, im Winter Schneesportlehrer und das ganze Jahr über noch «Mädchen für alles» in einem Ferienresort. Er organisiert Partys für Freunde und Bekannte, ist ein begnadeter Skater und liebt seinen kleinen Halbbruder Jon alias Johnny. «Er ist ein bisschen abgeklärt, akzeptiert die Lage, wie sie ist, weil er gar keine andere Möglichkeit hat», erklärte die Autorin.
Er macht einfach mit
Der Ort Waldbad könnte Flims, St. Moritz oder Davos sein. Es sind Kurorte mit Bergen, Skiliften, einem See, einem Grandhotel. Auch Flims könnte Waldbad sein. «Klar, dieser Ort ist mir am nächsten», sagte Lea Catrina. Sie habe auch eine Weile im Tourismus gearbeitet und habe viele Typen wie Luan kennengelernt: Shaper, Barbetreiber, Bügelliftsteher, Skilehrer. «Er ist einfach eine Mischung aus diversen coolen Typen.» All ihre Figuren seien Komposite von fiktionalen Unbekannten und Leuten, die sie wirklich kennt. Ein bisschen stecke sogar von ihrem Ehemann - einem Skater - in Luan.
Ihr Ziel sei gewesen, sich in den Lebensstil von Luan reinzuschreiben. Er sei in vielerlei Hinsicht ein guter Protagonist, um so eine Geschichte zu erzählen, weil er eine Randfigur ist, aber dennoch stark verankert in Waldbad. Er sagt: «Ich werde nie weggehen.» Dabei sieht er die Probleme im Dorf ganz klar, hat aber nicht die Macht, diesen etwas entgegenzustellen. Luan macht einfach mit, spielt nach den Regeln, die gegeben sind. Denn er gehört nicht zu den Privilegierten, hat keine andere Wahl. «Dabei empfindet er aber immer diese unterschwellige Frustration, was man auch in seinen Beobachtungen spürt», erklärt die Autorin.
Kleine Gemeinschaft in der Blase
Zu beobachten gibt es vieles im Ferienresort, denn hier residieren die unterschiedlichsten Gäste und Zweitwohnungsbesitzer. Sie alle haben ihre Eigenheiten und Probleme. Da ist zum Beispiel der nette Versicherungsberater Ludwig Krämer mit der Alkoholikerin als Frau, dort ist die Politikerin Rahel Wild mit ihrem Dackel, der immer auf die Wiese kackt, und dann gibt es den Sozialarbeiter, Sohn von erfolgreichen Regisseuren, die immer irgendwo anders sind.
Es ist eine kleine Gemeinschaft innerhalb einer Blase. Es ist die Geschichte vom Kommen und Gehen. Und eigentlich ist es die Geschichte eines Klassenkampfs, allerdings ohne Eskalation. Schliesslich dient der Protagonist der Situation zu, auch er lebt vom Tourismus. «Luan findet seinen Weg für seine kleine Rebellion, die grössere Rebellion für ihn ist, dass er einfach nicht geht», so die Autorin.
Heimat, Glück und Geld
Lea Catrina hat ein Buch verfasst über Heimat, Glück und wie Geld einen Ort und seine Menschen verändern kann. Das Buch hat sie im Eiltempo geschrieben, was beim Lesen eine regelrechte Sogwirkung erzeugt. «Der Roman gibt uns die Möglichkeit, über das Schicksal eines Menschen zu verstehen, welche Dimension das Thema Ausverkauf der Heimat hat», sagte die Moderatorin. Dies geschehe ohne Bitterkeit, ohne Schuldzuweisungen. «Die Leute, die kommen, nutzen ein Angebot, das von Leuten vor Ort geschaffen wurde, es gibt bei diesem Thema kein Schwarz-Weiss», meinte die Autorin. Das Buch animiere zu fragen, ob man etwas verändern könnte und ob eine Veränderung überhaupt erwünscht ist. Vielleicht ist die Antwort auf diese Fragen bereits im ersten Satz des Buchs enthalten.
Lea Catrina: Waldbad. Aris Verlag. 231 Seiten. ISBN 978-3-907238-37-0
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