Derzeit beschäftigt sie vor allem der Tod des Schriftstellers Peter Bichsels, meint Ida Spinnler. «Er war ein guter Freund unserer Familie», sagt die 100– Jährige. Eine ihrer letzten Begegnungen mit dem Schriftsteller bleibt unvergessen. Als sie nicht mehr gut genug hörte, um an einer öffentlichen Lesung im Bistro Lavin teilzunehmen, organisierte Bichsel kurzerhand eine persönliche Lesung nur für sie. «Auch das war eines dieser Geschenke vom Leben», sagt Spinnler dankbar.
Ein Leben voller Geschenke
Wenn sie heute auf 100 Lebensjahre zurückblickt, spricht sie immer wieder von «Geschenken». Gemeint sind nicht nur die zahlreichen Begegnungen mit verschiedenen Persönlichkeiten, sondern vor allem die zahlreichen Veloreisen, zum Beispiel mit ihren Kindern. Auch die Ehe mit dem Künstler Rolf Spinnler empfindet sie heute als Geschenk, obwohl diese nach zwölf Jahren mit der Scheidung endete. «Es war schön, aber auch unglaublich anstrengend», sagt sie heute. Danach blieb sie mit ihren drei Kindern allein. Auch aus Überzeugung. «Einen anderen Mann wollte ich den Kindern nicht vorsetzen.» Es fehlte ihr aber auch der Mut für «ein neues Wagnis einer Beziehung». Wenn Ida Spinnler über die Vergangenheit spricht, spricht sie mit einem Lächeln in der Stimme. Ohne Zynismus. Die Welt habe sich verändert, meint sie, nicht immer zum Besseren. «Früher wussten wir weniger – und genau das war manchmal ein Segen.» Die zunehmende Abhängigkeit von Technik, Elektrizität und digitaler Vernetzung sieht sie nicht nur positiv. Das weltpolitische Geschehen verfolgt die ehemalige Lehrerin selbstverständlich. «Es ist komplizierter geworden, keine Frage», meint Spinnler. Ihre Enkel hätten es nun viel schwerer als sie – sie selbst habe «mindestens zehnmal mehr Glück gehabt als meine Kinder und hundertmal mehr als meine Enkel».
Ein normales Leben?
Als Ida Spinnler vor einigen Jahren im Alter von 88 ins Altersheim nach Scuol ging, war das nichts Besonderes. Sie konnte dort eine kleine Wohnung beziehen und ihren Alltag grösstenteils selbstständig beschreiten. «Die Stimmung war wunderbar», blickt sie zurück. Heute sitzt die 100–Jährige aber wieder an ihrem Küchentisch in Lavin. Denn als sie nach vier Jahren genug hatte, ging sie wieder zurück. «Es war ein finanzieller Entscheid», meint sie. «Und Daheim ist es doch einfach am schönsten.» Das ist sinnbildlich für die Lebenshaltung von Ida Spinnler: selbstbestimmt, reflektiert und getragen von einem unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen. Dass nun bald ein Buch über sie erscheinen soll, kann Ida Spinnler nicht glauben. «Warum das spannend sein soll, weiss ich nicht», sagt sie und wirkt dabei fast ein wenig verlegen. Der Autor und Journalist Jürg Würth hat zahlreiche Gespräche mit ihr geführt und ist überzeugt, dass in Ida Spinnlers Leben eine Tiefe und Besonderheit steckt, die man in der heutigen Zeit nur noch selten findet. «Ich kann ja nichts dafür, dass der liebe Gott es gut mit mir meinte», sagt sie bescheiden. Und wer oder was dieser Gott genau sei, darauf hat sie ihre eigene Antwort: «Er ist alles. Auch die Natur gehört dazu.»
Geboren wurde sie in Parma, Italien, als Tochter einer St. Moritzerin und eines Unterengadiners. Aufgewachsen ist sie in einer christlich-reformierten Kultur – ein Fundament, das sie geprägt hat. Doch ihr Glaube ist weit gefasst, offen, nicht dogmatisch. Vielleicht ist es gerade diese Offenheit, die sie so sympathisch macht.
Auf die abschliessende Frage, was sie im Leben noch machen möchte, antwortet sie ohne jedes Zögern: «Ich möchte menschlicher werden.»
Autor: Mayk Wendt
Autor: Mayk Wendt
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