Franziska Barta sitzt an einem langen Holztisch in der Küche ihrer Wohnung in La Punt Chamues-ch. Ein grosser, steinerner Brotbackofen bildet das Herzstück des Raumes. Die Kräuter, die in kochendem Wasser zu einem duftenden Tee werden, hat Franziska Barta selbst gesammelt, getrocknet und gemischt. Es ist einer der seltenen freien Tage der Ärztin. «Zu viel Arbeit für eine, zu wenig für zwei Personen» biete ihre Praxis in Zuoz, sagt sie. Und doch fand sie Zeit, ein Buch zu schreiben. «Nachts. Ich brauche wenig Schlaf.» Im Herbst erscheint das literarische Debüt von Franziska Barta im elfundzehn-Verlag. Der Titel: «Eine Berlinerin im Engadin».
Zum Schreiben ist Franziska Barta über die in Sent lebenden Schriftstellerin und Journalistin Angelika Overath gekommen. Diese erkannte das Potenzial der Lebensgeschichte ihrer Freundin und animierte sie, die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend aufzuschreiben. So entstanden 50 Erinnerungsbilder. Es ist eine Spurensuche zurück ins Leben eines begabten und sensiblen Mädchens.
Das Abschiedsbild einer Kindheit
Was soll man mitnehmen, wenn man sein bisheriges Zuhause für immer verlässt und nur einen Koffer mitnehmen kann? Die geliebten, metallisch-glänzenden Matchboxautos? «Es sind zu viele, sie passen nicht ins Gepäck.» Die Zinnsoldaten, gesammelt aus Überraschungseiern? «Sie nehmen weniger Platz weg.» Die hart erkämpften Schachmedaillen? «Federleicht liegen sie in der Hand.» «Meine Schätze» lautet der Titel zu dieser Szene am Tag vor der Flucht aus der DDR.
Franziska Barta wuchs bei ihrer alleinerziehenden berufstätigen Mutter im Ostberlin der Siebzigerjahre auf. Als «Ingenieurin für sozialistische Nahrungsgüterwirtschaft» war sie an der Universität angestellt. Ihren Vater lernte sie erst als 13-Jährige kennen. Obwohl, gekannt hat sie ihn nicht wirklich. Jahre später stellte sich heraus, dass er für die Stasi gearbeitet hatte. Diese aussergewöhnliche Konstellation alleine wäre bereits ein Buch wert.
Doch Franziska Barta hat viel mehr zu erzählen: über die unspektakuläre und doch nervenaufreibende Flucht nach Westberlin im Jahr 1984 und das Ankommen in einer fremden Welt; wie sie als Studentin den Mauerfall erlebte und die Frauenszene der Achtzigerjahre entdeckte; über den harten Konkurrenzkampf junger Ärzte nach der Wende und den beruflichen Weg bis zur eigenen Arztpraxis im Engadin.
Viel Talent und viel Unwissenheit
«Beim Schreiben habe ich einfach Erinnerungen gesammelt», erzählt die Autorin, zum Beispiel, wie sie bereits im Kindergarten für den Sportkader im Eiskunstlauf «auserwählt» wurde und viele Stunden in eisiger Kälte unter dem strengen Blick der Trainerin auf dem Eisplatz verbringen musste, statt altersgemäss spielen zu dürfen, oder wie die Mutter später ihr Schachtalent entdeckte und sie im ersten Mädchenteam für Turniere durch die ganze DDR tingelte.
Franziska Barta erzählt von den schillernden Freunden der kettenrauchenden, kulturaffinen Mutter, die aus Westberlin im VW-Käfer zu Besuch kamen. Und sie schildert das beklemmende Gefühl, wenn der ihr so fremde Vater sie auf den Mund küsste. Ärztin wurde sie, weil die Mutter es so wollte.
Vergangene Kulturgeschichte
Die Szenen, die Franziska Barta beschreibt, sind ein Teil vergangener Kulturgeschichte. «Viele Menschen wissen nichts über das Leben in der DDR und vor allem nicht über die KoKo, für die mein Vater tätig war», sagt sie. Die Arbeitsgruppe Kommerzielle Koordinierung (KoKo) war für die Beschaffung von Devisen verantwortlich. Die Stasi beraubte private Kunstsammler in der DDR und machte deren Besitzstücke im Westen zu Geld. «Mein Vater war ein souveräner, ruhiger Mann, ich verstehe nicht, warum er das gemacht hat», sagt Franziska Barta. Bitterkeit schwingt dabei nicht mit, eher komplettes Unverständnis.
Ein Tagebuch in literarischer Form
Schreiben hat bekanntlich eine therapeutische Wirkung. Während des Schreibens sind Franziska Barta viele Erinnerungen gekommen. «Es war sicher auch ein Stück weit Tagebuch», sagt sie. Ein Tagebuch, das in eine literarische Form gebracht wurde und sie jetzt mit der Öffentlichkeit teilt. «Show, don’t tell», zeigen statt erzählen, lautet ein Leitsatz der Schriftstellerfreundin Angelika Overath. Sie hat das Buch lektoriert und immer wieder Feedback gegeben. Und sie wollte, dass Franziska Barta versucht, sich genau zu erinnern. Wie hat etwas gerochen? Wie war das Licht? Wer war dabei? Wie hat es sich angefühlt?
«Den Fokus auf ganz Konkretes zu setzen, hat geholfen, die Erinnerungen lebendig werden zu lassen», sagt Franziska Barta im Nachhinein. So beschwor sie eine Winteratmosphäre im Osten herauf und plötzlich kam das Bild, wie sehr sie im Zug in Halle fror und wie filigran die Eisblumen am Fenster aussahen. «Es hat geschneit und wir mussten stundenlang warten, bis die Gleise wieder frei waren».
Zwischen Ost- und Westberlin
Bisher haben nur ausgewählte Freundinnen und Bekannte ihre Erinnerungsbilder gelesen. Die Rückmeldungen sind sehr positiv. Es sei ein warm herziges Selbstbildnis geworden, schreibt eine Bekannte. «Es zeigt eine grosse Breite von Erlebnissen und es fällt einem extrem leicht, sich in die Erzählerin einzufühlen». Ihre Halbschwester, die erst seit Kurzem zu ihrem Leben gehört, meint: «Du findest schöne Worte und Gedanken, die sofort innere Bilder entstehen lassen.»
Das Buch sei eine Coming-of-Age-Geschichte, verbunden mit tollen Momentaufnahmen auf der Schneide zwischen Ost- und West-Berlin. Und eine bekannte Schweizer Schriftstellerin urteilt: «Sehr, sehr interessant und poetisch, ruhig geschrieben.»
Zwei Welten prallen aufeinander
Szenen aus dem Engadin – der Wahlheimat von Franziska Barta – finden sich ebenfalls in «Eine Berlinerin im Engadin»: der Sturz von Jachen im Stall; der Frieden, den die Autorin in der Bergwelt findet; die erste und letzte Skitour; die Geschichte eines letzten Wunsches und warum eine Hausärztin im Engadin eigentlich immer im Dienst ist.
Im Buch sind Fotos aus dem Leben von Franziska Barta abgebildet – von Ostberlin bis Zuoz, aus den frühen Siebzigerjahren bis heute. Um den Zeitpunkt der Herausgabe des Buches plant sie eine Ausstellung in der Praxis. Die Idee: Berlin-Bilder jeweils in Kontrast zu setzen mit Engadin-Impressionen. «Die zwei so unsagbar konträren Welten, die da aufeinanderprallen – ich staune immer wieder, besonders jeweils nach der Rückkehr von Berlin, wenn ich oben bei Bos-chetta joggen gehe», sagt sie. Zwei Welten, die beide zu diesem einen Leben gehören.
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