Pfingstmontag, Mittagszeit. Die schwe­re Holztüre des Schulhauses öffnet sich und zwei Kinder treten in die gleissende Sonne. Es sind unverkennbar Uorsin und Flurina – der Schellen-Ursli und seine Schwester. Beide tragen eine Glocke ins Freie. Flurina steht da mit Kopftuch, Zöpfen und geringelter Strumpfhose, Uorsin mit Zipfelmütze, gelbbrauner Hose und breitem Grinsen. Nun, eigentlich steht da das Geschwisterpaar Luisa und Jöri Würms aus Pontresina. Die 14-Jährige und der Elfjährige haben die Herausforderung angenommen, an der Familienoper «Schellen-Ursli» die Hauptrollen zu übernehmen. Zumindest bei den Aufführungen im Oberengadin. Im Unterengadin schlüpfen die Zwölfjährige Chiara Staub und die gleichaltrige Ambra Fanchi aus Sent in dieselben Theaterkleider und spielen Flurina und Uorsin auf Vallader statt auf Puter.

Urenkelin von Selina Chönz singt
An diesem langen Probetag sind alle Protagonisten zusammengekommen: Kinder aus der Primarschule Zuoz, die den Kern des Kinderensembles bilden, die erwachsenen Profisänger Chasper-CurÒ Mani, Gianna Lunardi und Flurin Caduff, Regisseurin Riikka Läser, die Kostüm-Verantwortliche Briony Langmead und natürlich der musikalische Leiter Claudio Danuser. 

Auch die Zwölfjährige Marietta Könz aus Ardez, die Urenkelin von der Autorin von «Schellen-Ursli», singt mit. «Mit dieser Familienoper lerne ich die Geschichten von Uorsin und Flurina noch besser kennen», meint sie. In der Inszenierungen vom «Schellen-Ursli» werden Elemente von «Flurina und das Wildvöglein» sowie von «Der grosse Schnee» eingeflochten, allesamt Geschichten von Selina Chönz. Marietta wird bei sämtlichen Aufführungen im sogenann­ten Wetterbaum-Quartett auftreten. Sie bringt ein besonderes Requisit mit in die Produktion: «la plumpa da tatta» – die schöne, alte Glocke mit Stickereien, welche die Urgrossmutter selbst angefertigt hat. Die beiden «Flurinas» haben die Ehre, sie zu tragen.

«Sie gehen Töne hoch und runter»
Für ein kurzes Interview verlagern sich die vier Hauptdarstellenden mit Marenda vor dem Schulhaus und erzählen, welche Erfahrungen und Herausforderungen mit ihrem Engage­ment verbunden sind. «Wir waren eigentlich beim Casting für die Nebenrollen als Tiere, Bäume oder Dorfkinder vorgesehen, aber wurden dann gleich für die Hauptrollen ausgewählt» erzählt Luisa. Chiara und Ambra kamen über ihre Gesangslehrerin Nina Mayer zu ihren Rollen. Opernerfahrung haben die Kinder noch keine, aber auf der Bühne standen sie bereits für Schultheaterproduktionen.

In einem Opernstück aufzutreten, bringt einige Herausforderungen mit sich. Es braucht Mut, vor Publikum solch anspruchsvolle Musik zu singen. «Die Töne gehen ständig hoch und runter, und wenn man nur einen Ton nicht trifft oder aus dem Takt gerät, tönt es falsch», schildert Ambra. «Ich hatte etwas Mühe, den vielen Text zu lernen, aber jetzt sitzt er», erzählt Jöri. «Ich muss mich anstren­gen, laut und deutlich zu sprechen» sagt Chiara. Sie ist die einzige im Quartett, die bereits mit ihrer Familie Opern live erlebt hat. «Man muss sich an diese Musik gewöhnen und dann beginnt sie, zu gefallen», meint Ambra und die anderen nicken zustimmend.

«Eine echte Oper, kein Pipifax»
Die Probezeit war für die Kinder intensiv. Die Geschwister Würms proben bereits seit Januar für die Familienoper, die Unterengadinerinnen sind seit März dabei. «Es ist toll, dass sich alle so grosse Mühe beim Singen geben und es eine echte Oper ist, nicht nur so ein Pipifax», sagt Jöri. Seine Schwester findet die ganze Gruppe cool. «Einmal die Hauptrolle in einer Oper übernehmen zu können und nicht nur zuzuschauen, das ist schon sehr schön», meint Chiara. «Es ist eine einmalige Erfahrung», sagt Ambra.

Am 13. Juni findet die Premiere in Zuoz statt. Aufführungen gibt es danach in Ftan, St. Moritz, Guarda, Stampa, Pontresina und Sils. Ein bisschen Lampenfieber haben die vier Kinder schon. Aber die Vorfreude überwiegt. Auch bei Chasper-CurÒ Mani aus Ardez. Der Bariton spielt Vater Andri. «Oper wird meistens als etwas Elitäres für Erwachsene empfun­den, mit dieser Produktion kommt die Oper zur Basis, das ist wichtig», sagt er. Die Musik sei komplex und nicht so eingängig, aber obwohl es anspruchsvoll sei, sie zu singen, hätten die Kinder kein Problem damit.

Mit Kindern auf der Bühne zu stehen, macht dem zweifachen Vater Freude. Ihm ist seine Vorbildfunktion bewusst. «Es ist mir ein Anliegen, Kindern die Möglichkeit zu bieten, auch mit Profis zu arbeiten», sagt Chasper-CurÒ Mani. Der Bariton ist davon überzeugt, dass der Funke mit solchen Erlebnissen überspringt. Auf diese Weise beginnen Kinder, die Oper zu verstehen – und vielleicht sogar für immer zu lieben.

Die Familienoper «Schellen-Ursli» von Marius Felix Lange wird am 13. Juni in Zuoz, am 14. Juni in Ftan, am 15. Juni St. Moritz, am 9. Juli in Guarda, am 10. Juli in Stampa, 12. Juli in Pontresina und am 13. Juli in Sils. Informationen: www.operaengiadina.ch