Die Rhätische Bahn begründet die Anschaffung der Loks mit einer Leistung von je 2400 PS mit dem Bau von Kraftwerken, welcher hohe Transportbedürfnisse verursachte: In den Jahren 1954 bis 1970 wurden in Mittelbünden, im Bergell, im Valser- und Safiental, im Hinterrhein, in der Surselva sowie im Engadin zahlreiche Kraftwerke mit grossen Staumauern und -dämmen gebaut. Für den Transport von Baumaschinen und -installationen, Zement, Zuschlagstoffen, Bindemittel und die Ausrüstungsteile von Kraftwerken und Übertragungsleitungen hat die RhB in einzelnen Jahren über 50 Millionen Tonnen Güter transportiert. Damit hat die RhB fast 50 Prozent ihrer Gesamteinnahmen erzielt. Mit den im Jahre 1954 verfügbaren Lokomotiven hätte die RhB die für den Kraftwerksbau erforderlichen Transporte nicht bewältigen können. Franz Skvor, ehemaliger Leiter der Zugförderung und Werkstätten der RhB und Mitglied der Direktion, schreibt: «Wäre es der RhB nicht gelungen, hier von Anfang an massgeblich mitzuhalten, wären die Strassen schon früher massiv ausgebaut worden und die RhB wäre wohl zur Bedeutungslosigkeit abgesunken». Aus diesem Grund konnte die RhB insgesamt sieben leistungsfähige Lokomotiven vom Typ Ge 6/6 II bestellen und in den Jahren 1958 sowie 1965 in Betrieb nehmen.
Ein Volksfest in St. Moritz
Nach ihrer Inbetriebnahme wurden die Loks an den Orten ihrer Wappen eingeweiht und getauft. Dies gab jeweils Anlass zu einem Volksfest, was von der damaligen Verbundenheit von Bahn und Einwohnern zeugt. Die Lok mit der Nummer 703 erhielt das Wappen von St. Moritz und wurde am 14. April 1965 getauft. Franz Skvor war an diesem Ereignis dabei und erinnert sich, dass gleichentags die sogenannte «Kollaudationsfahrt» stattgefunden hat. Dabei wurde die neue Lok während ihrer Führung des normalen Mittagsschnellzugs 83 von Chur nach St. Moritz unter Beisein von Beamten des Bundesamts für Verkehr erprobt und danach abgenommen. Die Lok war bereits ab Chur festlich geschmückt, um sich dann den Besuchern zu ihrer Einweihung und Taufe in St. Moritz von ihrer festlichsten Seite zu präsentieren.
Fast 60 Jahre lang im Betrieb
Nach der Bewältigung der grossen Transportleistungen während dem Kraftwerkbau haben die Lokomotiven vom Typ Ge 6/6 II nebst der Führung von Güterzügen auch eine wichtige Funktion bei der Bewältigung saisonaler Nachfragespitzen im Personenverkehr übernommen. Ihre Fähigkeit, Steigungen von 35 ‰ mit einer Anhängelast von 270 Tonnen zu überwinden, hat der RhB die Einsparung von Vorspannlokomotiven ermöglicht.
Die Lokomotiven vom Typ Ge 6/6 II haben sich bei der Führung von Güter- und Personenzügen auf dem Stammnetz der RhB jahrzehntelang bewährt. Sie wurden laufend unterhalten und erneuert. Damit hat sich auch ihr Erscheinungsbild geändert. So wurden die Loks ab den 1980er Jahren rot lackiert. Bei grösseren Revisionen wurden zudem neue Scheinwerfer eingebaut und die Pantographen durch moderne Einholmstromabnehmer ersetzt. Mit der Einführung einer grossen Zahl neuer Triebzüge vom Typ ABe 4/16 «Capricorn» seit dem Jahr 2020 wurden Lokomotiven vom Typ Ge 4/4 II und Ge 4/4 III aus ihren Diensten im Personenverkehr befreit und konnten die Leistungen der inzwischen betagten 700er-Lokomotiven übernehmen. Im Jahr 2022 wurden die Ge 6/6 II schliesslich aus ihren regelmässigen Diensten zurückgezogen und ausrangiert. Zur Zeit ist es vorgesehen, eine oder zwei Lokomotiven dieses Typs als historische Fahrzeuge bei der RhB zu erhalten.
Die Lok 703 als Simulator
Die beiden Führerstände der Lok «St. Moritz» werden künftig als Simulatoren betrieben, so dass mit dieser Maschine weiterhin virtuell auf den Strecken der RhB gefahren werden kann. Nachdem eine Kabine ins Fliegermuseum Altenrhein überführt wurde, befindet sich der zweite Führerstand in einem Eisenbahnlabor in Boltigen im Simmental. Dort wird er ehrenamtlich durch die Mitglieder eines Vereins so aufgearbeitet und ausgerüstet, dass die Funktionen der Lok realitätsgetreu nachgebildet werden. Eine Geländevisualisierung mittels Projektion und Monitoren erlaubt den Betrieb der Lokomotive als Simulator.
Der Simulator der Ge 6/6 II 703 «St. Moritz» dient künftig als Forschungsinstrument. Dabei befassen sich die Mitglieder des Labors, Mitarbeiter von Unternehmen und Studierende mit den Herausforderungen bei der Entwicklung von Simulatoren. Eine der Zielsetzungen des Eisenbahnlabors besteht aus der Verbindung von Fahr- und Stellwerksimulatoren, sodass mehrere Lokführer und Fahrdienstleiter gleichzeitig zusammenarbeiten können. Ein solches Instrument wird beispielsweise für die Untersuchung von Einflüssen menschlichen Handelns im Eisenbahnbetrieb benötigt. Ein weiteres Ziel ist auch die öffentliche Nutzung des Labors, sodass interessierte Personen auch selbst auf dem Simulator der ehemaligen RhB-Lok über die Gleise Graubündens fahren können.
Autor: Jürg Suter
Zeitzeugen gesucht
Nach der Fertigstellung des Simulators von Typ Ge 6/6 II «St. Moritz» möchte der Verein DESM eine kleine Einweihung durchführen und dabei der Taufe aus dem Jahr 1965 gedenken. Dazu werden Personen gesucht, welche am 14. April 1965 an den Festlichkeiten teilgenommen haben. Es würden uns freuen, wenn wir Personen erreichen, welche sich an den Anlass erinnern und uns davon erzählen könnten. Hinweise dazu nimmt der Verein sehr gerne entgegen: j.suter@desm.ch.
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