1863 einigten sich die Schweiz und Italien auf eine neue Grenzführung zwischen der Valposchiavo und der Valtellina. Nur regelten sie nicht, was mit den 108 Menschen passieren sollte, die auf diesen 22 Quadratkilometern, die der Schweiz zugeschlagen wurden, wohnten. Erst 1875 erhielten sie in die schweizerische Staatsbürgerschaft.
Antonio Plozza kam 1850 in Cavaione als Untertan von Kaiser Franz Josef zur Welt. 1859 wurde sein Dorf dem Königreich Sardinien zugeschlagen, das 1861 zum Königreich Italien wurde. 1875 wurde er schlussendlich in der Schweiz eingebürgert. Er durchlebte vier Wechsel seiner Staatszugehörigkeit in nur 15 Jahren, ohne ein einziges Mal sein Dorf zu verlassen. Eine einmalige Geschichte, die sich nur in Cavaione abspielen konnte, einem kleinen Dorf oberhalb von Brusio an der Südbündner Grenze zu Italien.
Ob er die politischen Umwälzungen so genau mitverfolgte, ist nicht bekannt. Er dürfte wohl andere Sorgen gehabt haben: Er und seine Dorfgenossen am Berghang waren sehr arm. Ein Zeitzeuge stellte damals fest, dass die Einwohner «fast verwildert sind; fast alle sind ungebildet». Und das war ein Teil des Problems: Im Talboden von Brusio wartete niemand auf die neuen Bürger und deren Familien, welche die Armenkasse und den Schulfonds belastet hätten. Nur mit einer Zahlung vom Bund und vom Kanton Graubünden konnten sie umgestimmt werden. 7000 und 9000 Franken zahlten sie für die grösste territoriale Ausdehnung der Schweiz seit dem Wiener Kongress von 1815, als die letzten Kantone Neuenburg, Wallis und Genf zur Eidgenossenschaft gestossen waren.
Die Geschichte der Heimatlosen
Die Cavaionesi blieben während 12 Jahren Staatenlose. Und sowieso: Vorher und nachher interessierten sich wenige für sie, die so fernab von allem lebten. Eine Schule kam zwar bald, aber eine Fahrstrasse erreichte das Dorf erst 1965. Die Menschen in der wahrscheinlich steilsten Siedlung der Schweiz wussten die Lage aber auch zu ihren Gunsten zu nutzen.
So berichtet der damalige Grossrat von Brusio anlässlich der Einbürgerung Folgendes: «Die Einwohner von Cavaione wollten sich in vergangenen Zeiten nie Bündner nennen, weil sie in Tirano tiefe Steuern zahlten und deshalb keine Ein- und Ausfuhrzölle für ihre wirtschaftlichen Notwendigkeiten und für den Export ihrer Produkte zahlen mussten». Den italienischen Steuerbeamten erzählten sie die Geschichte andersherum und mussten somit weder Steuern noch Militärdienst leisten. Nachdem die rechtliche Frage geklärt war, rundeten sie die kargen Erträge der Landwirtschaft mit Schmuggel auf.
Ein Fest mit 180 Nachfahren
Mit der Eröffnung der Strasse begann die Abwanderung und die Einwohnerzahl ging rasant zurück, 1971 wurde auch die Schule geschlossen. Heute leben nur noch acht Menschen ganzjährig in der Siedlung. Seit 2016 setzt sich die Stiftung Cavaione für die Belebung des Dorfes ein. Es wurden etliche Kilometer Trockenmauern instand gestellt und aus dem alten Schulhaus wurde eine Gruppenunterkunft. Vor zwei Jahren kam mit Guy Parmelin sogar erstmals ein Bundesrat zu Besuch.
Und jetzt wird gefeiert. 150 Jahre nachdem die Menschen von Cavaione die Schweizer Bürgerschaft erlangten, kehren für einen Tag alle Nachfahren und ihre Freunde an diesen speziellen Ort zurück. 180 Personen haben sich für das Fest angemeldet. Eine schöne Ausstellung in der ehemaligen Schulstube, kuratiert durch die Società Storica Valposchiavo, blickt auf diese bewegte Geschichte zurück.
Medienmitteilung Fondazione Cavaione




Diskutieren Sie mit
Login, um Kommentar zu schreiben