Wie kommt man auf die Idee, eine Anthologie über Rilkes Tiere zu machen? Für die Schriftstellerin und Herausgeberin Angelika Overath ist diese Frage leicht zu beantworten. «Wenn du mit einem ‹Rilker› lebst, – also einem Mann, bei dem es bei allen Gesprächen am Küchentisch um Rilke geht – , kommst du schnell darauf, dass Tiere bei Rilke eine ganz grosse Rolle spielen», erklärt sie. Als Seelenverwandte habe der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) die Tiere verstanden. «Fast die Hälfte von Rilkes berühmtesten Gedichten sind Tiergedichte», erklärt der Herausgeber Manfred Koch, der sich als Literaturwissenschaftler seit Jahrzehnten mit Rilke befasst.

 Ein ästhetisches Werk
Das Büchlein «Rilkes Tiere» ist soeben im Insel Verlag erschienen und fällt bereits durch sein Cover auf, auf dem ein Gepard an einer Leine zu sehen ist. Es ist ein Detail aus dem Gemälde «Der Triumph Davids» von Francesco Pesellino (um 1445–1455), das in der National Gallery London hängt. Das Detail hat Angelika Overath vor Ort fotografiert, wie auch alle anderen Bilder von Gemälden mit Tieren, die in verschiedenen europäischen Museen hängen. 

Nach Dresden ist die in Sent lebende Herausgeberin sogar eigens gefahren, um ein Einhorn abzufotografieren. «Rilke war Zeit seines Lebens eng mit der bildenden Kunst verbunden, insofern passen diese Illustrationen sehr gut zur Anthologie», sagt Manfred Koch. Abgesehen davon seien sie sehr ästhetisch.

Viele Hunde und allerlei Vögel
«Der Panther» ist eines der bekanntesten Gedichte von Rilke. Es schildert das Raubtier in einem Käfig im Jardin des Plantes in Paris. «Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein grosser Wille steht», lautet die zweite Strophe. In Rilkes Werk kommen springende Delphine vor, brüllende Löwen, immer wieder Hunde, Schwäne, und allerlei andere Vögel. «Tiere waren für Rilke ein Projek­ti­onsraum, oftmals von Sehnsüchten», erklärt Manfred Koch. Er habe eine regelrechte Tierphilosophie und Tierreligion gehabt, was man am Vogelflug-Motiv besonders gut ablesen könne. 

Gleichzeitig konnte Rilke über Tiere ausdrücken, was er anders nicht hätte sagen können. «Er spricht beispielsweise von der Taube, die am Brunnenrand kurz aufsetzt, und gleichzeitig spricht er damit von der intransitiven Liebe», erläutert Angelika Overath. Konkret: Rilke wollte sich in Beziehungen nie festlegen. 

In einem Tagebucheintrag hält der Hundenarr Rilke unter anderem fest, wie sehr er sich einen Hund wünschen würde. «Aber ich fühlte gleich, dass auch dies schon viel zu viel Beziehung ergäbe, bei meinem Eingehen auf einen solchen Hausgenossen; (...)» In der Biographie, die Manfred Koch dieses Jahr veröffentlicht hat, schreibt er über Rilke: «Er war ein Mensch von sagenhafter Verantwortungslosigkeit» Nur in seiner Sprache konnte er frei sein und gestalten.

Die Pralinés unter Rilkes Texte
 «Rilkes Tiere» ist eine Sammlung aus leicht verständlichen Rilke-Originaltexten: Gedichten, Tagebucheinträgen und Briefauszügen mit Tierbezug. So schildert Rilke, wie er Marienkäfer auf der Fensterbank umdreht. In «Die Gazelle» geht es um den Reim, um die Musikalität des Gedichts. Bei der Erscheinung des Einhorns wiederum kommt die Mythologie und vollkommene Schönheit ins Spiel. «Wir haben die Pralinés unter Rilkes Texten gesammelt», erklärt Angelika Overath.

Anthologien sind in der Regel keine Bestseller. Auf die Frage, für wen sie das Buch gemacht hätten, sagt die Herausgeberin: «Für Rilke-Anfänger, denn es sind einfache Texte, die einen schnellen Einstieg zu Rilkes Werk ermög­lichen». Und Manfred Koch ergänzt: «Und natürlich für alle Rilke-Liebhaber».

Angelika Overath/Manfred Koch (Hrsg.): Rilkes Tiere. Insel Verlag 2025. 111 Seiten.