Zugegeben: man muss schon ein dickes Fell haben, wenn man auf einer Gemeindeverwaltung arbeitet. Die Post, die man da bekommt, ist nicht immer eine erfreuliche. Meist melden sich Bürgerinnen und Bürger, wenn ihnen etwas nicht passt. Ich erlebe aber vermehrt auch, dass sich einige Bürgerinnen und Bürger, für scheinbare Kleinigkeiten, bedanken. Meist ältere, die von mir – natürlich von Amtes Wegen – eine persönliche Gratulationskarte zu einem höheren Geburtstag erhalten.
Die Anrede meines – ja, ich gebe es zu – liebsten (und auch einzigen!) Brieffreundes, seines Zeichens Bürger Adolf Haeberli, zeugt auf den ersten Blick nicht von Harmonie und Dankbarkeit: teilweise mit bis zu drei Briefen pro Woche bombardierte der von mir zum «Ehren-Wutbürger» ernannten Bürger Haeberli unsere Kanzlei – adressiert wie im Titel schon vermerkt, an die «Top oft the World of Criminal Idiots» – zu Handen des obersten Idioten, his Lordshit Christian Jott Jenny.
Der Inhalt? Meist sehr differenziert. Akribisch genau recherchiert, sei es wegen einer anstehenden Abstimmung, aufgrund eines noch nicht gebauten WCs bei der Meierei, seien es Überlegungen zur «Schlitteda». Es war mir von Anbeginn meiner Amtszeit klar, dass ich mit diesem Menschen in Frieden leben möchte. Sein Hauptthema in seinen Briefen: natürlich das EW – das Elektrizitätswerk von St. Moritz, welches ausschliesslich von Betrügern geführt wird und welche man per sofort einsperren müsse. Und natürlich auch, dass die Gemeinde anno 1967 das Parkhaus Quadrellas miserabel gebaut hat und nur deshalb sein Haus zur wundersamen «Villa Hebdifescht» wurde. Selbst meine Vorgänger haben in den letzten bald 60 Jahren mehrfach das Gespräch mit dem «Haeberli» gesucht. Er hat nie losgelassen. Bis drei Tage vor seinem Ableben hat er immer und immer wieder auf diesen für ihn so wichtigen Themen herumgehauen. Sie haben ihn ein Leben lang beschäftigt. Es war aber auch genau diese Reibung mit der Gemeinde, welche ihn irgendwo auch am Leben hielt. Reibung erzeugt, wie wir alle wissen, Wärme.
Für viele in unserem Dorf, aber auch anderswo, war Adolf Haeberli ein Einzelgänger. Ein Aussätziger. Ein Vagabund. Für weitere auch – teilweise auch verständlich – ein Behörden- und Beamtenschreck. Manche haben ihn gar als «geisteskrank und debil» gestempelt und beschimpft.
Nach den ersten intensiveren Begegnungen mit Adolf Haeberli wurde mir schnell klar, dass sich unter diesem langen, mehr oder weniger gepflegten Bart, aus welchem irgendwo zwei liebenswürdige Augen und ein verschmitztes Lächeln hervorlugten, vermutlich eher, ich traue es mir fast nicht zu sagen, ein Genie versteckt hat. Ein hochintelligenter Mensch, welcher vielen von uns intellektuell und bildungsmässig weit überlegen war. Einer, der wohl vertiefter über die aktuelle Weltlage Bescheid wusste als mancher Nachrichtensprecher. Einer, der mehr über Richard Wagners Opern erzählen konnte als ich, der ich doch Musik studiert habe. Einer, welcher haargenau hinschaute, was auf der Welt, in der Schweiz, in Graubünden und vor allem: in seiner Heimat St. Moritz so alles passiert. Hinzu kam sein grossartiger (britischer) Humor. Seine Selbstironie. Die meisten Begegnungen mit Adolf Haeberli (und es waren zum Glück viele) haben mein Leben sehr bereichert.
Anhand von Adolf Haeberlis Person habe ich auch immer mehr verstanden, was eine gute Gemeinschaft, ein Dorf eben ausmacht. Es war rührend mitzuerleben, wie sich seine Nachbarn, notabene unsere Gemeindepolizei, echte Sorgen gemacht hat, wenn sie «den Haeberli» ein paar Tage nicht gesehen haben. Viele Menschen in St. Moritz haben wohl erst in den letzten Jahren gemerkt, dass man auf so ein Dorforiginal mehr als stolz sein kann. Denn so fest AH nicht zum Selbstbild von St. Moritz zu passen schien – es ist eben genau das, was unser reichhaltiges Dorf ausmacht. Genau dass man so einen Bürger in seiner ganzen Eigenart gewähren lässt, das nennt sich Gemeinschaft. Auch wenn es unter «Varia» an den Gemeindeversammlungen wieder einmal etwas lange ging – das letzte Wort, klar im Geiste und Haarscharf vorbereitet, gehörte stets Adolf Haeberli. Alle warteten stets darauf und dankten es ihm mit Applaus.
Dass nun ausgerechnet dieser Vagabund, dieser Randständige, unangepasste Bürger, der täglich durch unser Dorf schlurfte, am Ende seiner Existenz auch noch eine Stiftung für das brennendste Thema, dem Einheimischen Wohnen, gegründet hat, lässt tief blicken. Wir alle sollten uns vor ihm verneigen.
Ich werde meinen Brieffreund und seine fehlerfreien «Hermes-Baby-Briefe» sehr vermissen. Danke für alles. Ruhe in Frieden.
Autor: Christian Jott Jenny, Gemeindepräsident St. Moritz
Fotos: Mayk Wendt und fotoswiss.com/Giancarlo Cattaneo
Autor: Christian Jott Jenny, Gemeindepräsident St. Moritz
Fotos: Mayk Wendt und fotoswiss.com/Giancarlo Cattaneo





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