Zernez in den Dreissigerjahren: Eine alte Frau überquert die Strasse, ein Bauer schleift seine Sense, ein Mann und eine Frau unterhalten sich vor einem Haus, ein Kind lacht verschämt in die Kamera. Die Personen bewegen sich im Dorf Zernez, in einer Zeit, als noch Fuhrwerke auf der Strasse fuhren. Diese Bilder eines Stummfilms mit dem Titel «Paraints» hat einst der Kreisförster von Chur, Otta Letta, bei einem Besuch bei seinen Verwandten in Zernez aufgenommen. Damals diente der Film lediglich dem privaten Gebrauch. Heute ist der Stummfilm ein wertvoller Zeitzeuge des bäuerlichen Engadins von vor fast 100 Jahren. Demnächst wird der Stummfilm auf dem AV-Medienportal der Kantonsbibliothek Graubünden zugänglich sein.
Der Stummfilm veranschaulicht gut, warum es wichtig ist, audiovisuelle Medien zu bewahren. «Ton- und Filmaufnahmen können Ereignisse, Personen und Gegenden ganz anders vermitteln als Schriftdokumente. Sie zeigen ein authentisches Bild des Alltags, der Kultur und Gesellschaft», sagte die Kantonsbibliothekarin Nadine Wallaschek am vergangenen Samstagnachmittag im Schloss Planta Wildenberg in Zernez anlässlich der Informationsveranstaltung zum kantonalen Inventarprojekt für audiovisuelle Kulturgüter.
Zeugen der Zeitgeschichte
Laut Nadine Wallaschek ermöglichen audiovisuelle Medien kulturelle Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Sehe man beispielsweise historische Filme aus der Gegend, in der man aufgewachsen ist, entstehe ein Wiedererkennungswert; Emotionen werden geweckt, das Gemeinschaftsgefühl gestärkt. Feste, Musik und Bräuche können in Bild und Ton verewigt werden. Diese Zeugen der Zeitgeschichte fördern das Verständnis für die eigenen Wurzeln. In Ton- und Videoaufnahmen lebt zudem die Vielfalt der Sprachen und Dialekte weiter.
Audiovisuelle Medien dienen der Bildung und Forschung. Das beste Beispiel ist der Geschichtsunterricht, der sofort spannender wird, wenn ein historischer Filmausschnitt gezeigt wird. Bild und Ton vermitteln Geschichte auf anschauliche Weise. Und schliesslich dienen gut erhaltene audiovisuelle Medien auch dem Tourismus. Sie machen eine Region sichtbar.
«Wertvolles, spannendes Kulturgut»
In Graubünden gibt es mehrere Institutionen, die sich um den Erhalt von audiovisuellen Medien kümmern. Kantonale Institutionen mit gesetzlichem Auftrag sind das Staatsarchiv, die Kantonsbibliothek, die kantonalen Museen und die Plattform Porta Cultura. Zu den Institutionen ohne gesetzlichen Auftrag gehören unter anderem die Fotostiftung Graubünden, Istoria oder nossaistorgia.ch. Daneben sammeln Gemeindearchive, regionale Kulturarchive, Vereine, Firmen, aber auch Privatpersonen audiovisuelle Medien. «Sie alle tragen dazu bei, unser wertvolles, spannendes und wichtiges Kulturerbe zu bewahren und zugänglich zu machen», sagte Nadine Wallaschek.
Jeder Hinweis ist hilfreich
Neu beteiligt sich Graubünden am nationalen Übersichtsinventar von Memoriav, der Kompetenzstelle für das audiovisuelle Erbe der Schweiz. «Ziel des Projekts ist es, audiovisuelle Bestände schweizweit zu erfassen, ihren Erhaltungszustand zu dokumentieren und dadurch gezielte Massnahmen zur Sicherung zu ermöglichen», erklärte Sarah Amsler, Projektleiterin in Graubünden. Koordiniert wird die Erhebung vom Amt für Kultur in Zusammenarbeit mit der Kantonsbibliothek Graubünden und Porta Cultura. Neben bekannten Sammlungen sollen auch Bestände erfasst werden, die bisher kaum sichtbar waren – etwa bei Vereinen, Institutionen oder in Privathaushalten.
Seit Oktober und noch bis Ende Januar 2026 können sich Institutionen, Organisationen und Privatpersonen über eine Online-Umfrage beteiligen. Gesucht werden Informationen zu vorhandenen Filmen, Videos, Tondokumenten oder Fotografien. «Es geht nicht um die Abgabe der Materialien, sondern um Hinweise auf deren Existenz, Lagerung und Zustand», betonte Sarah Amsler. Eine Anonymisierung der Ergebnisse sei möglich. Die Resultate und erhobenen Daten fliessen am Ende in einen öffentlich zugänglichen Projektbericht ein.
Gegen den Zerfall
Die nationale Erhebung ermöglicht eine umfassende Sicht einerseits auf den Reichtum des audiovisuellen Kulturguts der Schweiz und andererseits auf die Herausforderungen, welche die langfristige Erhaltung und Nutzbarmachung von audiovisuellen Medien stellen. Wie Christian Brassel, Verantwortlicher des AV-Medienportals Graubünden, in seinem Teil der Präsentation feststellte, ist der Zerfall der Trägermaterialien von Fotos, Filmen, Videos und Tondokumenten ein grosses Problem. Auch verschwinden Abspieltechnologien, zum Beispiel Videogeräte oder Tonbandmaschinen. Digitale Speichermedien wie Memory-Sticks gehen verloren. «Umso wichtiger ist die Inventarisierung und Digitalisierung der audiovisuellen Medien», meinte er.
Weitere Informationen: www.memoriav.ch
Text und Fotos: Fadrina Hofmann
Nachgefragt
Text und Fotos: Fadrina Hofmann
Nachgefragt
«Ein vereinfachter Zugang zu Fotoarchiv»
Engadiner Post: Ruedi Bruderer, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit historischen audiovisuellen Medien. Warum?
Ruedi Bruderer: Ich war 35 Jahre lang bei der SRG tätig. Als Filmemacher haben mich besonders historische Themen interessiert, meistens mit Bezug zum Engadin. Ich habe auch lange mit Jürg Frischknecht recherchiert, der ein Buch über das audiovisuelle Erbe des Engadins und Südbündens geschrieben hat. Privat habe ich eine grosse Sammlung mit alten Fotos und Postkarten.
Seit diesem Jahr sind Sie Präsident des Archiv cultural Engiadina Bassa. Wie geht dieses regionale Kulturarchiv mit audiovisuellen Medien um?
Wir sammeln Dokumente sowie Bild- und Tonmaterial mit Bezug zum Unterengadin bis Samnaun. Dazu gehören Nachlässe von Privatpersonen oder Gesellschaften, Vereinsstatuten, Flugblätter, Briefe, Bücher, Fotos und Filme oder Dias und so weiter. Bisher wurde alles in sogenannten «Kollektionen» aufbewahrt. Neu sollen Fotos, Glasplatten, Tonaufnahmen, Filme und Videos separat archiviert werden. Der Vorstand hat diesen Schwerpunkt für die Jahre 2026 bis 2028 an seiner Sitzung vom 3. Dezember beschlossen.
Was bedeutet das konkret?
Wir digitalisieren die Glasplatten und andere Negative, und archivieren sie an einem geeigneten Standort. Der gesamte Fotobestand wird digitalisiert und wir konservieren die Fotoabzüge separat. All dies erfolgt gemäss den Empfehlungen von Memoriav und dem Staatsarchiv Graubünden. Und: Wir ermöglichen mittelfristig für Nutzerinnen und Nutzer einen vereinfachten Zugang zu unserem Fotobestand. Wenn Leute ihre Fotos nicht als Legat oder Schenkung abgeben möchten, bitten wir sie, ihre Bilder digitalisieren zu dürfen. In der Vergangenheit wurden oft nur Fotokopien abgegeben.
Der neue Schwerpunkt ist mit zusätzlicher Arbeit verbunden. Haben Sie genug Mitarbeitende?
Wir suchen noch ein bis zwei Personen, die sich für die Arbeit im Kulturarchiv in S-chadatsch interessieren und den bisherigen Archivaren helfen möchten.
Ruedi Bruderer ist Präsident des Archiv Cultural Engiadina Bassa.







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