Das Kritisieren der jeweiligen «heutigen Jugend» stellt eine alte Gewohnheit in der menschlichen Geschichte dar. Wir üben damit eine einfache Wiederholung aus. Viel spannender ist es, Beweggründe, Funktion und Ziele von Jugendverhalten zu verstehen versuchen.
Als polyvalenter Sozialdienst im Engadin sind wir auch für die Jugendberatung die Anlaufstelle. Heranwachsende sind mit Entwicklungsaufgaben konfrontiert. Jugendliche, welche die Hilfe unserer Beratungsstelle in Anspruch nehmen, brauchen meist Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit diesen Aufgaben. Zu den Herausforderungen zählen unter anderem die Identitätsbildung, die Ablösung von den Eltern und die Berufswahl. Die Beziehungsgestaltung zur Familie und zur Gruppe der Gleichaltrigen sowie die Anschlusslösungen im Berufs- und Bildungsbereich können durchaus Aspekte unserer Beratungen mit Jugendlichen sein.
Eine weitere interessante Herausforderung ist der Umgang mit dem Konsum von Substanzen wie Alkohol und Cannabis. Auch hier gibt es einen Zusammenhang bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Das Konsumieren der benannten Substanzen kann mit alterstypischen Initiations- und Anerkennungsritualen, mit dem Wunsch nach Spass oder mit Neugier zu tun haben.
Damit kann ein junger Mensch neue Beziehungs- und Handlungsmuster ausprobieren und sich mit den eigenen Grenzen auseinandersetzen. Das Zurückgreifen auf solche Substanzen kann aber auch eine Reaktion auf Stresssituationen sein. Die angedeuteten jugendtypischen Herausforderungen sorgen häufig für Probleme und Verunsicherungen. Komme ich mit meinem neuen Körperbild klar? Reichen meine schulischen Leistungen für meinen Traumberuf? Haben mich die Altersgenossen gern? Wieso verstehen mich meine Eltern nicht mehr?
Können junge Menschen diese Stresssituationen und die einhergehenden belastenden Gefühle nicht anders überwinden, kann die Betäubung durch Substanzen wie Alkohol und Cannabis als eine (vorläufige) Bewältigungsstrategie umgesetzt werden. Es lohnt sich also, mit der jungen Person das eigene Verhalten zu hinterfragen und mit ihr nach individuellen Lösungen zu suchen. Die Auseinandersetzung mit folgenden Fragen ist in der Beratung zentral: Was soll passieren, damit ich auf den Konsum verzichten kann? Wann ist es mir gelungen, aus einer Stresssituation ohne das Einsetzen von Alkohol und Cannabis herauszukommen? Was und wer haben mir dabei geholfen? In welchen Momenten lebe ich abstinent? Was ist dann anders?
Verhaltensformen wie Selbstverletzungen, Essstörungen oder das exzessive Benutzen von Internet und Computer können ähnlich als Produkte der Beschäftigung mit den eigenen Entwicklungsaufgaben betrachtet werden. Das Verhalten einer (jungen) Person hängt mit Beweggründen und Motivationen zusammen. Uns geht es in der Beratung darum, dies mit den Jugendlichen zu reflektieren und angemessene alternative Verhaltensweisen und ressourcenorientierte Lösungswege auszuarbeiten. Somit unterstützen wir sie bei der Erreichung ihrer persönlich angestrebten Ziele.
Autor: Niccolò Nussio

Niccolò Nussio, Jahrgang 1985, ist im Bergell und Puschlav aufgewachsen und hat das Diplom in Sozialer Arbeit an der Fachhochschule St. Gallen gemacht. Er arbeitet als Sozialarbeiter bei den regionalen Sozialdiensten Unterengadin/Münstertal und Oberengadin/Bergell.