«Engadiner  Post/Posta  Ladina»: Herr Gottwald, wenn wir Nachrichten hören, Ukraine-Krieg, Überschwemmungen, Waldbrände und andere Katastrophen – lässt sich die Zukunft auch schönreden?

Franz-Theo Gottwald*: Die Zukunft lässt sich sicher schönreden. Aber wir haben in den Tagen der Arbeit hier mit dem Welt-Zukunftsrat sehr realistisch auf Daten und Fakten von klimabedingten Veränderungen, Biodiversitätsverlusten oder schmelzenden Gletschern geschaut. Allesamt Themen, zu denen wir als Welt-Zukunftsrat (World Future Council WFC) Politiken identifizieren, welche helfen können, diese dramatischen Veränderungen politisch anzupacken. Und das ist dringend nötig.

Weshalb ist das so dringend nötig?

Nun, wir haben zwar allerorten Umweltrechte, aber überall auch Vollzugsdefizite. Es ist vor allem politisch noch nicht gelungen, das Umweltrecht mit dem Wirtschaftsrecht so zu verknüpfen, dass alle Akteure – ich spreche hier ebenso von der Wirtschaft wie der Zivilgesellschaft, von NGOs oder den Kirchen – einen perspektivenreichen Rahmen erhalten, in dem sie ihr Verhalten neu ausrichten können. Durch den schwachen Vollzug der Umweltrechte wird nach wie vor weltweit auf Probleme eingezahlt, die wir überall erleben und die sich genau in solchen Katastrophen auswirken, bis hin zum Auftauen der Permafrostböden, was die Klimaveränderung zusätzlich noch verstärkt. 

Sie kommen von der eben zu Ende gegangenen Jahresversammlung des Welt-Zukunftsrats im Hotel Kronenhof in Pontresina, wo sie als Rat Gastrecht geniessen ...

Wir haben gerade diskutiert, dass wir uns darüber im Klaren sein müssen, dass von der Weltgemeinschaft gesetzte Ziele, beispielsweise die Beschränkung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad Celsius, längst nicht mehr zu erreichen sind. Realistischerweise bewegen sich unsere Prognosen auf zwischen zwei und zweieinhalb Grad Celsius. Unsere Ratsmitglieder sind alles Fachexperten und darüber hinaus auch Expertinnen die für bestimmte Bewegungen des Schützens, Hegens oder auch Weiterentwickelns einer neuen Wirtschaft einstehen. Mit ihren Expertisen versuchen sie, angesichts der planetaren Grenzen die längst überschritten sind, nicht zu retten, was noch zu retten ist, sondern stellen ihr Wissen und ihre Erfahrung zur Verfügung um den drohenden, ja hochwahrscheinlichen Kollaps welt- und auch nationalgesellschaftlich überstehen zu können.

Sie zeichnen ein gar düsteres Bild

Möglicherweise! Wir haben in den letzten zwei Jahren aber weltweit erlebt, beispielsweise mit Covid bis unter die eigene Haut, wie unkontrollierbar Ereignisse stattfinden. Ganz zu schweigen von den lokalen Problemen die durch Umweltveränderungen, möglicherweise aber einfach auch nur durch Witterungszufälle entstehen, so genau weiss man das ja nicht. Wenn wir aber nun merken, dass die Zukunft immer unvorhersehbarer wird oder das Befragungen von jungen Menschen auch in Europa zeigen, dass rund 80 Prozent der 20- bis 30-Jährigen hochdepressiv reagieren, wenn sie an ihre Zukunft denken, dann befinden wir uns in gewisser Weise sehr wohl bereits in einer Art gesellschaftlichen Kollaps. 

Gibt es auch Licht am Ende des Tunnels?

Durchaus. Umso wichtiger werden beispielsweise Initiativen wie das World Ethik Forum in Pontresina. In den Medien wurde dieser Anlass als Treffen der Achtsamen bezeichnet. Und genau darum geht es, ganz achtsam zu sein, auch auf das eigene Verhalten bezogen. Also auf den sogenannten ökologischen Rucksack schauen und sich fragen: Was kaufe ich ein, wie viele Lebensmittel vernichte ich oder wo reise ich wie hin? Und auch achtsam zu sein auf die Ängste und Nöte der Menschen die mit uns hier leben und durch die Zeiten des Lockdowns ganz scheu geworden sind. Es ist deshalb Teil der Aufgaben eines Ethikforums aber auch eines Welt-Zukunftsrats, gemeinsam Gesprächs- und Überlebensräume zu gestalten, welche Anpassungen erlauben an die dramatischen und schneller werdenden Veränderungen, die auf uns alle zukommen. 

Sie haben Eingangs das Umweltrecht angesprochen. Es gibt aber auch Bestrebungen, der Natur selbst Rechte zu gewähren.

Wir arbeiten im Welt-Zukunftsrat an der Verrechtlichung der Natur, oder einfacher ausgedrückt, an politischen Lösungen, der Natur eine Stimme zu geben. Wir können auf beste Politiken blicken, beispielsweise nach Neuseeland, wo es gelungen ist, dass Flüsse eine Stimme bekommen haben und eine Rechtsperson geworden sind. Auch in Nord-Indien ist das zumindest proklamiert und damit einklagbar geworden. Auch wenn es noch ein langer Weg ist, bis man für einen Fluss oder eine Landschaft rechtlich Klage gegen Übernutzung erheben kann oder gegen das, was Oberlieger in ein Gewässer einleiten oder trotz der Bedarfe der Unterlieger zuviel aus einem Gewässer entnehmen. Dass nächste Generationen kein Wasser mehr haben ist ein durchaus reales Problem.

Was kann der Zukunftsrat da beitragen?

Die Frage, ob wir einem Grundwasserkörper zubilligen können, dass er rechtspraktisch betrachtet Eigenrechte hat, ist eines der wesentlichen Arbeitsfelder des Welt-Zukunftsrats. Auf der Basis guter Rechtsphilosophie und -theorie verschiedener Vordenker ist es eben in Neuseeland oder Indien gelungen, prototypisch zu zeigen, dass das geht. In Deutschland arbeiten wir unter dem etwas philosophischen Namen «Der Loisach eine Stimme geben» diesbezüglich am Fluss Loisach. Das gleiche könnte hier mit dem Inn oder dem Morteratschgletscher auch geschehen. 

Und wie funktioniert dies in der Praxis?

Die Stimme wird rechtlich an Menschen, Gruppen oder Institutionen verliehen, die ihrerseits mit dem Recht beliehen werden, für die Leusach, den Inn oder den Morteratschgletscher zu sprechen. Das ist kein Hexenwerk, sondern relativ leicht in das bestehende Rechtssystem einzufügen, wenn man konkrete Schutzgüter und eine entsprechende Geschichte hat. 

Eine solche ist die 2021 von der Grünen-Nationalrätin Marionna Schlatter und Mitstreitern eingereichte parlamentarische Initiative «Recht auf gesunde Umwelt und Rechte der Natur». Die nationalrätliche Kommission für Rechtsfragen hat die Initiative vorberaten, dem Parlament aber die Ablehnung derselben empfohlen. Verstehen Sie diesen Entscheid?

Ja. Und zwar aus dem auch für mich stimmigen Grund, weil die Sprache drumherum sich auf die Gesundheit des Naturraums und nicht auf diesen selbst bezog. Die Gesundheit lässt sich aber nicht messen. Man müsste hier in der Schweiz viel genauere, messbare Grössen angeben, auf die sich dann der jeweilige Rechtsfall auch beziehen könnte. Das darf nicht zu Allgemein und auch nicht zu Grundsätzlich formuliert sein, sondern muss mit Mass und Zahl gefasst werden können, damit daraus beispielsweise eine Instruktion oder eine Verordnung entstehen kann, was getan werden muss um ein Gewässer zu schützen, einen Waldsaum einigermassen intakt zu halten oder den Einsatz von Umweltchemikalien einzudämmen. 

 

Foto: Jon Duschletta

 

Wie haben Sie übrigens Pontresina und das erste World Ethic Forum erlebt? 

Der Pontresiner Gemeindepräsidentin Nora Saratz-Cazin und den Forumsorganisatoren ist es gelungen, einen wunderbaren Raum der Gastlichkeit anzubieten, in dem Themen freimütig, offen und auch angstfrei behandelt werden konnten. Wo auch ein so gutes Miteinander in diesem, zumindest auf den ersten Blick, herrlich intakten Naturraum möglich war, dass Gäste und Teilnehmende sich dem Thema gestellt haben, motiviert nach Hause gegangen und nicht in die allgemeine Depression gefallen sind. 

Heute, just heute an unserem Gesprächstermin hätte das Artemis I Raumfahrtprogramm von Nasa und Esa starten sollen. Es wäre das erste Mondprogramm seit 50 Jahren mit dem erklärten Ziel, wieder Menschen auf den Mond zu bringen. Die angedachte Besiedelung des Mondes, dereinst vielleicht sogar des Mars, sind Zukunftsvisionen. Machen die Sinn?

Eine wunderbare Frage für mich als Umweltethiker und Honorarprofessor. Wir haben uns in einer meiner Veranstaltungen an der Humbold Universität in Berlin mit den Studierenden genau damit auseinandergesetzt und uns gefragt, ob es solche alternativen Lebensräume gibt. Technisch ist das sehr wahrscheinlich auch möglich, wir haben ja mit den amerikanischen Biosphere-Projekten I bis III auf der Erde auch schon Vorläufer solcher, sich selbst erhaltender Systeme gehabt. Die kommen aber alle nach einer gewissen Dauer an ihre Grenzen, weil sie natürlich nicht mehr eingebettet sind in dem, was wir das Ganze der Natur nennen. Dieses Ganze ist dermassen komplex, dass wir es technisch nicht nachbauen können. Zumal es aus meiner Sicht auch total vermessen wäre. Wenn solches also nicht mal hier auf der Erde gelingt, wie soll es dann auf dem Mond oder dem Mars gelingen? 

Auch nicht vorübergehend?

Vielleicht ja. Aber so lange wir als Menschen genetisch und epigenetisch so ausgestattet sind, wie wir über die Jahrtausende gereift sind, dürfte das äusserst kompliziert sein. Trotzdem darf man das auch nicht unterschätzen, weil ja doch in einigen Ländern genetisch auch am Menschen gearbeitet und versucht wird, Wesen zu bauen die technoformer leben können oder die mit künstlicher Intelligenz steuerbarer sind, um nur zwei Beispiele zu nennen. 

Ein Schreckensszenario ...

Für viele ja. Aber wir müssen auch realistisch sein, da wird viel Geld investiert. Und wo Geld investiert wird, soll das am Ende irgendwo auch einen Zins bringen und sich auszahlen. Gut möglich, dass auf dem Mars Bodenschätze liegen, die dereinst mittels Robotik geschürft werden können oder es möglich wird, andere Ressourcen zu erschliessen, die wir auf unserem Planeten scheinbar nicht mehr haben. Selbst, wenn wir auf den Grund der Ozeane gehen und schauen, was wir dort noch alles finden und gewinnen können. Das Problem ist, dass unser Lebensstil an die planetarischen Grenzen gestossen ist. Um diesen Lebensstil beizubehalten steigt überall die Ausbeutung und der Extraktivismus. Und weil Wünsche, Antriebe und Bedürfnisse des einzelnen Menschen nicht vom Neokortex – dem jüngsten Teil des Endhirns – sondern vom limbischen System – dem alten und schwierig zu kontrollierenden Teil des Gehirns – gesteuert werden, ist alles auch etwas kompliziert. 

Gibt es Hoffnung?

Es ist beispielsweise dem Ethikforum gelungen, eine Kultur erlebbar zu machen, die hilft, solche Schreckensszenarien zu dämpfen: eine kaputte Umwelt, eine Erde die uns scheinbar nicht mehr ernähren kann oder den Umstand, dass an Menschen so gebastelt wird, dass sie zu einer Mischung aus Roboter und Mensch werden. In Pontresina hat man vielmehr realistisch geschaut, was sind die nächsten Schritte, was können wir wirklich tun und uns in dem auch gegenseitig ermutigen.

Dank den hiesigen Naturräumen?

Auch. Die Lebendigkeit und auch die Natur werden bleiben. Ob sie sich in unserer Form zeigen, hängt davon ab, ob wir uns darauf einlassen oder ob wir dieses Programm der Moderne, wie es gesellschafts-wissenschaftlich heisst, so weiterführen und glauben, mit der Entkopplung von Naturräumen, mit künstlich urbanen Welten mit auch vertikalen Ernährungssystemen oder der biotechnologischen Erzeugung von Nährstoffen besser geschützt zu sein. Die Botschaft von Pontresina ist: Du bist nicht geschützt, wenn du dich von der Natur trennst, sondern du erlebst den Schutz von Mutter Natur nur, wenn du dich richtig auf sie und ihre Lebendigkeit einlässt. Heisst, sich von der Natur tragen lassen und sich mit, anstatt aus der Natur heraus zu entwickeln. Diese grundsätzliche, philosophische Aussage hat uns auch im Welt-Zukunftsrat geholfen, eine Deklaration zu verabschieden.

Was steht denn in der «Pontresina Declaration»? 

Da steht vorab die Programmatik drin, die unseren Rat die nächsten fünf Jahre lang leiten wird. Aber, wie der Titel verrät, auch der Enge Bezug zu Pontresina und zu den Fragen nach der Zukunft des Lebens auf der Erde. Dabei sprechen wir bewusst nicht vom Planeten oder einer anderen Abstraktion, sondern von der Erde. Erdfest sollen wir werden. Es ist dies auch das Geschenk, welches uns das Ethikforum und auch Pontresina gemacht haben. Was uns verbindet, ist, dass wir auf dieser einen Erde stehen, erdfest werden und hier bleiben, indem wir uns zusammen mit der Erde entwickeln.

Wie kam es überhaupt, dass der Welt-Zukunftsrat seine Jahresversammlung ausgerechnet in Pontresina abhielt?

Das ist über die Kolleginnen und Kollegen des World Ethic Forum entstanden. Sie haben recherchiert und gefunden, dass die Räte, die wir im Welt-Zukunftsrat haben, die Kopf, Herz und Hand sind von grösseren sozialen Bewegungen, Verfechter sind moderner ganzheitlich-wissenschaftlicher Ansätze oder erfahrene Politikerinnen, dass diese Leute also, die die Welt vertreten, bei einem solchen Anlass mit von der Partie sein müssen. Weil uns das gemeinsame Anliegen verbindet, für das Leben auf der Erde einzustehen und all denen Mut zu machen, die jetzt furchtbar unter den laufenden Veränderungen leiden, war die Standortwahl dann auch wie selbstverständlich. 

Ich sehe Sie angetan vom Ethikforum ...

Durchaus. Ich finde das vom Ethikforum gepflegte Bild der «Firekeeper» besonders schön: Die Flamme lebendig halten, die Flamme des Lebendigen auch bei starken Winden und anderen Wetterkapriolen aufrecht halten. Da ist etwas gemeinsames gewachsen und ich glaube, dass auch im nächsten Jahr Vertreter des Zukunftsrats wieder hierher kommen werden, um zu berichten, zu ermutigen, aber auch herauszufordern. Nicht zuletzt, weil wir uns alle auf die reale Politik einlassen müssen. Wir können weder unsere eigenen Gesetze machen noch uns in einsame Berghütten zurückziehen. Die Gesellschaft wird nach wie vor durch gewählte politische Vertreterinnen und Vertreter rechtlich gestaltet und es gibt auch Spielregeln, welche die Gesellschaft sich selbst gesetzt hat. Die müssen wir adressieren und mithelfen, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, welcher das Leben selbst und auch das Recht der nächsten Generationen auf ein gutes Leben auf diesem Planeten unterstützt.

Das sehen wohl nicht alle Machthaber gleich gerne.

Es ist tatsächlich eine politische Herausforderung. Wir haben auch diskutiert, dass wir weltweit und über praktisch alle Nationen eine Veränderung in Richtung totalitärer Regime feststellen. Es wird vermehrt wieder nach starken Händen gerufen, die scheinbar Sicherheit geben können, nach Führerinnen und Führern, die uns durch diese von uns Menschen ökologisch selbst verursachten Engpässe führen sollen. Das ist kritisch.

Haben Sie ein Gegenrezept?

Eine mögliche Antwort auf ebendiese Engpässe sehen wir im Zukunftsrat in der Pflege und Stärkung der Zivilgesellschaft mit ihren verschiedenen Bewegungen von Frauen-, Jugend- über Anti-Rassismus-Bewegungen bis hin zu solchen die sich für mehr Inklusion einsetzen. Davon gibts ja zum Glück so viele wie noch nie zuvor auf der Welt. Aber natürlich sind die Machtverhältnisse vielerorts anders gelagert, beispielsweise, wenn vier Prozent der Weltbevölkerung 60 Prozent des Weltvermögens besitzen. Logisch, gibts hier unterschiedliche Interessen. Wenn wir an die Kolleginnen und Kollegen des World Economic Forum in Davos denken, dann gehört hier mit dem Ethikforum definitiv ein Gegenimpuls her. Wir wissen alle, wo die Musik gespielt wird, aber wir können noch selbst entscheiden, wie wir zu dieser Musik tanzen wollen, das könnte einen Unterschied darstellen.

Wie nah sind Sie als Umwelt-Ethiker dem Boden?

Sehr nah. Wir haben im Zukunftsrat und aktuell auch hier in Pontresina wieder die Zukunft der Ernährung und der Agrarsysteme behandelt und uns gefragt, was auch auf politischer Ebene passieren muss, damit die Böden die weltweit noch für die Produktion von Nahrungsmitteln taugen, langfristig Bestand haben. Oder, was muss für die Bodengesundheit gemacht werden, welche Agrarpolitiken fördern gute Fruchtfolgen, welche sichern den Landwirtinnen gerechte Einkommen und wertschätzen deren Arbeit? Und es braucht, wenn man auf die Konsumentenseite schaut, Politiken die helfen Nahrungsmittelverschwendung zu vermeiden oder weniger auf Export ausgerichtet sind. Weshalb wird in vielen Ländern Europas weit über den Eigenbedarf hinaus produziert, mit der Folge, dass massenhaft Fleisch- oder Käseprodukte exportiert werden müssen? Dabei muss man nicht einmal hier im Engadin weit gehen, um übernutzte Wiesen und Weiden zu entdecken. 

Im Kleinen wie im Grossen also?

Genau. Städte funktionieren auch so, die nehmen auch sehr viel auf, lassen ihren Output irgendwo und rezyklieren auch nicht wirklich klug. Alleine über die menschliche Ausscheidungen gehen enorme Mengen an Nährstoffen verloren oder verunreinigen das Wasser. Für das ganze Feld der Ernährung und viele Bereiche darüber hinaus ist es hilfreich, und daran arbeitet der Welt-Zukunftsrat, in Kreisläufen zu denken. Da sind ja zum Glück alle Technologien vorhanden bis hin zum Upcycling, also der Umnutzung von scheinbarem Abfall zur Produktion neuwertiger Produkte. In der Natur gibt es keinen Abfall. Es ist ja hier am Ethikforum und mit den Workshops auch wunderbar gelungen, solche grundlegenden Prinzipien erlebbar zu machen. Auch, den Glauben daran zu stärken, dass es als Menschen auch unsere Pflicht ist, uns naturgemäss zu verhalten, keinen Abfall zu produzieren oder diesen nicht einfach wegzuschmeissen.

Schöne Worte ...

Es sind die Machtgefüge, die politische und ökonomische Macht, die Finanzmacht und auch die mediale Manipulationsmacht, welche die Narrative bestimmen. Was das Ethikforum und auch uns vom Welt-Zukunftsrat antreibt, ist hingegen die Macht des Herzens und der Liebe, die in allen Kulturen immer stark war und sich hoffentlich auch jetzt wieder zeigt und dies – ein Wunsch meinerseits – stärker als die Macht des Geldes. Wir brauchen uns aber in dem Moment nicht ohnmächtig zu fühlen, wo wir uns als Menschen auf das einlassen, was uns unser Herz sagt und wir uns mit der Macht der Liebe oder der Macht der Wahrheit einlassen und verbünden. Das habe ich als «Firekeeper» und Teilnehmer des Ethikforums wie eine Art roter Faden wertgeschätzt. Es ist so einfach: Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit auf der einen Seite und etwas weniger Gewalt, respektive mehr Sanftmut auf der anderen. 

Sie sagen das, während in der Ukraine und anderen Gegenden fürchterliche Kriege toben.

So brutal das auch tönt, aber Krieg ist der Vater der Dinge. In Teilen ist dies auch positiv, weil er der Vater von technologischen Entwicklungen ist, die ich als Ethiker nicht von vornherein als negativ bezeichnen würde. Wir haben das seitens des Zukunftsrats übrigens in der «Pontresina Declaration» vom 29. August als eines von sechs Handlungsfeldern auch so adressiert: Neben der Stabilisierung des Klimas, der Erneuerung von Wirtschaft und Ökosystemen, der Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit, der Sicherung von Lebensunterhalten oder der Wahrung von Kinder- und Jugendrechten wie auch den Rechten zukünftiger Generationen, haben wir eben auch die politische Forderung festgesetzt: «Make peace!» 

Sie haben mit rund 50 Mitstreiterinnen und Mitstreitern bis Montagabend die Jahresversammlung des World Future Council abgehalten. Was nehmen sie über die behandelten Themen hinaus, davon mit?

Wären wir an einem anderen Ort gewesen und hätten dort getagt, wir hätten die Pontresiner Erklärung niemals in diese Versprachlichung bringen können. Es ist die Kraft der Erde oder die Kraft eines Ortes, wo man wunderbar kulturschöpferisch arbeiten und gemeinsam erarbeiten kann, wofür wir einstehen und wo wir damit hinkommen wollen. 

Gibt es jedes Jahr eine solche Erklärung des Welt-Zukunftsrats?

Nein, die jetzt erstellte Deklaration dient uns für die nächsten fünf Jahre als Basis unserer Arbeit und für jene unserer Mitarbeitenden, Beratern oder auch unserer Anspruchsgruppen, für die wir arbeiten. Sie bezieht all die realen Problemfelder inklusive des realen Kriegs in der Ukraine mit ein. Zudem schafft sie den Rahmen für die weitere sachliche Arbeit in unseren laufenden Projekten, beispielsweise für die Deutsche Bundesregierung, die EU, die Vereinten Nationen und andere. 

Eine Frage muss noch sein: Nomen est omen, was raten Sie als Vorsitzender des Aufsichtsrats des Welt-Zukunftsrates der Welt für die Zukunft?

(überlegt lange) Ich rate der Welt, in eine Haltung der pflegenden und hegenden Entwicklung zu gehen.

 

*Prof. Dr. phil. Dipl.-Theol Franz-Theo Gottwald (67) ist Unternehmensberater und geschäftsführender Kurator der Cocreatio-Stiftung für Kooperation und kollektive Entwicklung. Er forscht und lehrt als Honorarprofessor für agrar- und ernährungsethische Fragen an der Humboldt Universität Berlin und ist Autor zahlreicher Fachpublikationen in den Bereichen nachhaltiges Wirtschaften und sozial-ökologische Zukunftsperspektiven. Er leitet die Kommission Nachhaltige Agrar- und Ernährungswirtschaft beim Senat der Wirtschaft und ist Herausgeberbeirat der «Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht» sowie Kurator verschiedener Stiftungen. Gottwald ist seit 2010 Mitglied des Aufsichtsrats des World Future Councils und steht diesem seit 2018 als Vorsitzender vor. 

 

Der Welt-Zukunftsrat posiert in Pontresina vor dem Gasthotel Kronenhof. Foto: Mayk Wendt

 

INFOTEXT: Der Welt-Zukunftsrat tagte in Pontresina

Der Welt-Zukunftsrat, auch World Future Council (WFC), verfolgt das Ziel, auch nächsten Generationen «einen gesunden, nachhaltigen Planeten mit gerechten und friedlichen Gesellschaften zu übergeben». Dafür identifiziert, entwickelt, beleuchtet und verbreitet der 50-köpfige, international und interdisziplinär zusammengesetzte Rat zukunftsgerechte Lösungen und fördert weltweit die Umsetzung dieser. 

2007 wurde der WFC vom schwedisch-deutschen Berufsphilatelisten, Umweltaktivisten und Gründer des Alternativen Nobelpreises Jakob von Uexküll, zusammen mit dem deutschen Publizisten und Umweltaktivisten Herbert Girardet ins Leben gerufen. Der WFC agiert als politisch unabhängige, gemeinnützige Stiftung, welche eng mit internationalen Organisationen, Experten und Akteurinnen aus Politik und Zivilgesellschaft zusammenarbeitet. 2009 lancierte der WFC den «Future Policy Award». Damit zeichnet der Rat explizit Gesetze aus, welche dessen Ziele – bessere Lebensbedingungen für heutige und zukünftige Generationen – fördern. Solche Gesetze sollen dank dem Preis weltweit bekannt werden, global Schule machen und auch mithelfen, gerechte, nachhaltige und friedvolle Gesellschaften in ihrem Wirken zu unterstützen. 2022 wurden beispielsweise Gesetze ausgezeichnet, welche Umwelt und Menschen vor gefährlichen Chemikalien schützen. Weitere Fokusthemen des WFC sind Kinder- und Jugendrechte, nachhaltige Ökosysteme oder Erneuerbare Energien. Der Welt-Zukunftsrat hat im Anschluss an das World Ethic Forum in Pontresina im Hotel Kronenhof seine Jahresversammlung abgehalten und dabei die «Pontresina Declaration» verabschiedet. 

Weiterführende Informationen zum Welt-Zukunftsrat auf der Homepage des World Future Council unter: www.worldfuturecouncil.org

Die am Montag verabschiedete «Pontresina Declaration – The Future for Life on Earth» im Wortlaut.

Interview: Jon Duschletta, Foto: Mayk Wendt