Gabrielle Susan Rüetschi war Ende zwanzig, als sie das erste Mal mit ihrem Mann in Scuol die Ferien verbrachte. Irgendwann kam die Familie – das Paar hat drei Söhne – regelmässig nach Scuol. Zwei der Söhne haben später auch als Snowboardlehrer im Skigebiet Motta Naluns gearbeitet. «Ich war ohnehin sehr oft da, denn ich bin sehr gerne in den Bergen und habe auch eine Freundin in Sent», erzählt sie. Die erste Wohnung, welche sie in Scuol mietete, war klein und alles andere als modern. Nach sieben Jahren entschied das Ehepaar schliesslich, eine Wohnung in Scuol zu kaufen. Bisher verbrachte Gabrielle Susan Rüetschi jeweils etwa einen Drittel des Jahres in Scuol, dieses Jahr war es sogar die Hälfte.

«Ich könnte mir gut vorstellen, ganz nach Scuol zu ziehen, aber ich habe auch viele Verpflichtungen im Unterland», sagt sie. Die betagte Mutter sei dort, die Söhne ebenfalls, und Markus, ihr Mann, wolle den Lebensmittelpunkt nicht ganz verlegen. Und so bleibt einzig das Pendelmodell.

Sprache ist der Schlüssel
Scuol hat einen Zweitwohnungsanteil von über 60 Prozent. Gabrielle Susan Rüetschi ist eine jener Zweitheimi­schen, die sich integrieren wollen. Das beginnt bei der Sprache. «Ich hatte schon immer grosse Freude an Fremdsprachen, ich schlüpfe gerne in andere Sprachen rein», sagt die ehemalige Lehrerin. Mit «Reinschlüpfen» meint sie, dass sie mit der Sprache experimen­tiert, Wörter ausprobiert, ihr eigenes Verhalten in der fremden Sprache beobachtet. 

«Rumantsch hat mir von Anfang an total gut gefallen», erzählt sie. Den Vallader-Grundkurs und mehrere Litera­turkurse hat sie an der Volkshochschule in Zürich gemacht. Sie liest oft romanische Texte, hört Radio Rumantsch, versucht, wann immer möglich, Romanisch zu sprechen. Im vergangenen Sommer hat sie auch den Intensivkurs in Scuol besucht.

Es braucht Mut und Beharrlichkeit
Es brauche Mut, als Zugezogene Romanisch zu sprechen, meint Gabrielle Susan Rüetschi. Und Beharrlichkeit sei erforderlich, denn die Einheimischen wechseln unbewusst schnell ins Deutsche, wenn sie merken, dass das Gegenüber nicht Muttersprachlerin ist. «Ich werde häufig gefragt, warum ich eine Sprache lerne, die mir nichts bringe», sagt sie. Die Antwort darauf hat mit echtem Interesse und mit Wertschätzung gegenüber der lokalen Kultur zu tun. Sprache ist ein Schlüssel, der einen anderen Zugang zu den Menschen vor Ort ermöglicht. «Die Einheimischen haben Freude, wenn ich versuche, Romanisch zu sprechen.» Abgesehen davon bereite auch ihr die Sprache grosse Freude.

Ein inspirierender Ort
Gabrielle Susan Rüetschi sagt von sich, dass sie schon immer gerne geschrie­ben hat. Intensiver widmet sie sich dem Schreiben aber erst wieder, seit sie zeitweise im Engadin lebt. «Das Engadin ist ein sehr inspirierender Ort, nirgends springt mich so schnell etwas an wie hier», erzählt sie. Sobald sie sich mit etwas verbinde, entstehe etwas Drittes, oftmals ein Text oder eine Sequenz. «Ich brauche diesen zweiten Wohnort, damit ich ungestört arbeiten kann und Kreativität wachsen kann», so die Dichterin. 

«Oh dass da Berge sind», hiess ihr erstes Buch. Das Projekt ihrer Buchreihe der vier Elemente hat ebenfalls in Scuol angefangen. Drei Gedichtbänder aus dieser Reihe hat sie bereits realisiert: «Kaleidoskop Wasser», «Gebärde der Erde» und neu «Feuerfächer». «Das Wasser liegt mir besonders nahe, fasziniert mich, zieht mich an», so die Poetin. In Scuol – dem Ort, der mehr als 20 Mine­ralquellen zählt, mit den Bächen Clozza und Clemgia und dem Inn – sprudelt das Wasser ringsherum. 

Eine Anmassung?
An den romanischen Gedichten feilt Gabrielle Susan Rüetschi länger als an den deutschen. «Ich fühle mich oftmals nicht berechtigt, etwas in Rumantsch herauszugeben. Ich muss sehr überzeugt von diesem Gedicht sein», erklärt sie. Romanische Gedichte herauszugeben – nach so kurzer Zeit des Lernens der Sprache –, sei eigentlich eine Anmassung, meint sie selbstkritisch. Und dennoch tut sie es, weil diese romanischen Gedichte eben auch in ihr entstehen.

«Ich entdecke so viele spannende Wörter, zum Beispiel die verschie­denen romanischen Begriffe für Asche», erzählt sie begeistert. Arsüra tschendra, tschimaint, bras-cher ... Um romanische Gedichte zu schreiben, müsse sie aber im Engadin sein. In Baden gelinge ihr das nicht. 

Viel Raum für Interpretation
Die Gedichte von Gabrielle Susan Rüetschi reimen sich selten. «Es sind Klanggebilde», erklärt sie. Aus einer musikalischen Familie stammend, hat sie einen besonderen Zugang zu Klang und Rhythmus. Da kommt ihr auch ihre Zweitausbildung als Atem- und Bewegungstherapeutin zugute. Inhaltlich sind die Texte laut der Verfasserin einfach zu verstehen. «Beim Gedicht geht es um das Verdichten, durch die Reduktion wird ein Text allgemeiner im Sinne von: Beim Lesen kann man seine eigenen Erfahrungen wachrufen.». Gedichte beinhalten meist eine zweite Ebene, die viel Raum für Interpretation lässt. 

In jenen Gedichten, in denen sie ein Du anspricht, hat Gabrielle Susan Rüetschi ein Gegenüber im Hinterkopf. Bei anderen Gedichten denkt sie nicht an die Leserschaft. «Schreiben ist meine Leidenschaft, Geld verdienen lässt sich dabei nicht», sagt sie. Die Bücher entstehen im Eigenverlag. Aber seit sie sich hauptsächlich dem Schreiben widme, wolle sie ihre Texte auch vortragen und teilen. «Natürlich möchte ich wissen, wie meine Gedichte bei den Leuten ankommen.»

Nach «Feuerfächer» entsteht nun noch ein Buch zum Element Luft. Ideen dafür hat Gabrielle Susan Rüetschi bereits viele. »Vor der Luft habe ich aber grossen Respekt, weil sie am wenigsten greifbar ist», sagt sie. Eine besondere Herausforderung werden die Fotografien. In allen Büchern sind auch Bilder, die die Poetin gemacht hat. In der dünnen Luft des Engadins lassen sich gewiss nicht nur stimmungsvolle Sujets aufnehmen, sondern auch schöne Luftgedichte schreiben.