Nur noch in wenigen Engadiner Stuben hängt der originale Engadiner Holzschmuck am Weihnachtsbaum. Maria Bass (1897–1948) entwarf ihn seit 1939 für die «Lavur chasauna Schlarigna». «Dieser in unseren Ohren so wohlklingende Name heisst auf Deutsch nichts anderes als ‹Heimarbeit Celerina», steht in einem Zeitungsartikel von 1941, der lediglich mit «Claudine» unterzeichnet ist. Im Artikel erzählt die Autorin von ihrem Besuch in der Werkstatt, in der Frauen im Nebenverdienst verschiedene Gegenstände herstellten: bemalte Spanschachteln, Spielzeug-Dörfer, Zündholzschachteln und eben auch Christbaumschmuck. 

Die Fertigkeiten für diese Arbeiten erlernten die Frauen in Abendkursen bei Maria Bass. Ihr Anliegen war, den Frauen nebst einer Verdienstmöglichkeit auch ihren Sinn für handwerkliche Schönheit zu wecken: «Das Gefühl für das Einfache und Echte, vielleicht mit der Zeit auch die Lust am eigenen Entwerfen», wollte die Kunstmalerin fördern.

Die Suche nach Authentizität
In einem Textbeitrag vom Frühjahr 1944 schildert Maria Bass selbst, wie sie bei der Motivsuche für den Christbaumschmuck vorgegangen ist: «Unsere ersten Bemühungen gingen darauf aus, zusammenzutragen, was auf dem Gebiet der Holzbemalung an alten Vorbildern vorhanden war». Fast überall in den Estrichen der Engadiner Häuser fand man damals bemalte Truhen und Schränke. Diese stammten aber überwiegend aus dem benachbarten Tirol oder waren von fremden Wander­gesellen bemalt worden. Maria Bass wollte authentische Engadiner Motive und fand diese schliesslich auf Spanschachteln, «rot grundiert mit weissem Muster, welches sich wie ein Spitzengewebe über Schachtel und Deckel legt». Im Engadiner Museum und im Rhätischen Museum fand sie zudem Kästchen, Schränke und Bettstellen mit bemalter Flachschnitzerei. Auch schaute sie sich die Verzierungen auf den Engadiner Bockschlitten «mit ihrer sehr originellen Farbgebung» an. Weiter dienten die Sgrafitto-Verzierungen an den Fassaden der Engadiner Häuser und die traditionellen Stickereien mit den immer wiederkehrenden Motiven Herz, Tulpe, Nelke, Granatapfel und Klatschmohn als Inspirationsquelle. 

Jedes Stück ein Unikat
Es waren also fertige Entwürfe, die den Frauen zur Vervielfältigung übergeben wurden. «Meist sind es sehr einfache Motive von möglichst eindeutigen und unmissverständlichen Formen wie ein Kreis, ein Viereck, ein Stern, ein Herz, eine Rosette, eine Wellenlinie, Spirale und so weiter», erklärte die Kunstmalerin in ihrem Text. Mit Freude stellte sie fest, dass die Frauen nach kurzer Zeit imstande waren, selbstständig ein Motiv umzuändern oder eigene Entwürfe anzufertigen. Am Ende war jedes Stück ein Unikat.

Obwohl Figuren und Maltechnik einfach waren, kam der festliche Christbaumschmuck bei der kriegsgebeutelten Bevölkerung gut an. «Die geschmackvollen und lustigen Celeriner Fischchen, Pferdchen, Vögelchen und Sternchen finden guten Absatz und bringen dem Engadiner Dorfe willkommenes Bargeld», so steht es in einem von damals Zeitungsartikel. 

«Von einer herben Leichtigkeit»
Die Schriftstellerin Romana Ganzoni ist der Geschichte des Engadiner Christbaumschmucks vor einigen Jahren auf den Grund gegangen, denn Maria Bass war eine Verwandte der Familie. Romana Ganzoni holt den originalen Baumschmuck Jahr für Jahr aus den Weihnachtsschachteln. «Sie sind einfach etwas ganz Besonderes», meint sie. Oder – um die Worte aus einem der Artikel aus den Vierzigerjahren zu verwenden: «Dieser Christbaumschmuck aus Celerina ist von einer herben Lieblichkeit, die, weil sie echt ist, in gleicher Weise das jugendliche und reifere Gemüt [sic] entspricht». 

Im Jahr 2018 erlebte der Engadiner Christbaumschmuck ein Revival. Die Blumengalerie in St. Moritz Bad startete einen Relaunch mit einer limitierten Kollektion. In sorgfältiger Handarbeit wurden 100 Stück hergestellt. Die Idee dazu kam der Inhaberin Claudia Lischer im Gespräch mit einem einheimischen Kunden, der noch Kenntnis vom Engadiner Christbaumschmuck hatte. Heute, sieben Jahre später, sind die bemalten Holzfiguren nach wie vor im Laden erhältlich.